Behalten & loslassen

Behalten & loslassen

Darum werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat. Geduld aber habt ihr nötig, auf dass ihr den Willen Gottes tut und das Verheißene empfangt. Denn »nur noch eine kleine Weile, so wird kommen, der da kommen soll, und wird nicht lange ausbleiben. (Hebräerbrief 10,35-37)

Die seltene Kunst der Gelassenheit

„Die Kunst eines erfüllten Lebens ist die Kunst des Lassens: Zulassen, Weglassen, Loslassen.“ (Ernst Ferstl) Für Wesen mit einem unendlich starken Drang festzuhalten und gehalten zu werden ist das Loslassen eine immense Herausforderung, denn es betrifft alle Lebensbereiche. Das Loslassen hartnäckiger Erwartungen, erdrückender Ansprüche und schwerer Sorgen, das Loslassen von Träumen, falschen Zielen und überhöhten Idealen, das Loslassen der Kinder und ans Herz gewachsener Menschen, das Loslassen der Verletzer und der Rachegedanken sowie am schwersten das Loslassen der eigenen Wichtigkeit, sich selbst zu vergöttern, immer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit Anderer stehen zu wollen ist nicht nur ein weiser Entschluß, sondern Gnade. Es braucht ein hohes Maß an Lebensweisheit, Freiheit, Risikobereitschaft, Mut und Gelassenheit. Am Ende aber liegt in der Fähigkeit des Loslassens ein Geschenk göttlicher Gnade. Vielleicht lässt sich diese Fähigkeit mit folgender Geschichte beschreiben.

Die Einladung des Seiltänzers

Zwischen zwei gegenüberliegenden Häusern einer belebten Fußgängerzone spannt sich ein langes Seil. In schwindelerregender Höhe führt dort oben ein Seiltänzer seine Kunststücke vor. Am Ende seiner Vorstellung schiebt er eine mit Ziegelsteinen vollbeladene Schubkarre über das schwankende Seil. Heil am anderen Ende des Seils angelangt, beginnt er damit die Steine auszuladen. Während er einen Stein nach dem anderen auf den Vorsprung des Hausdaches legt, fragt er die Zuschauer, ob sie ihm zutrauen die Schubkarre auch ohne Ziegelsteine wieder auf die andere Seite des Seils zu schieben. Von unten ertönt lauter Beifall. Die Zuschauer nicken und unter lautem Gelächter feuern sie ihn begeistert an. Da tritt der Akrobat auf das Seil, beugt sich zu einem Zuschauer, der direkt unter ihm steht hinunter und fragt ihn: „Sie, da im feinen Zwirn und Hut, trauen Sie mir dieses Kunststück auch zu?“ „Aber natürlich“, ruft der Angesprochene fröhlich zurück, „sie haben doch die volle Schubkarre auch sicher ans Ziel gebracht“. „Na, dann“, meint der Seiltänzer. „Bitte kommen Sie doch zu mir herauf und setzen Sie sich in die Schubkarre. Dann werde ich Sie sicher auf die andere Seite schieben.“

Abenteuer Loslassen & Zulassen

Den festen Boden unter den Füßen zu verlassen, um sich auf ein wackeliges, riskantes und gefährliches Manöver einzulassen – und das ist unser Leben nun einmal, brüchig und verletzlich (wir sind es auch) – da braucht es schon ein großes Maß an Vertrauen. Wer loslässt, braucht jemanden auf den er sich einlässt. Wer etwas oder jemanden verlässt, braucht einen auf den er sich neu verlässt, denn Leben passiert nicht im luftleeren Raum. Begeisterte Zuschauer finden sich immer und viele. Mutige Menschen, die ihren sicheren Standpunkt verlassen, Menschen, die sich im Vertrauen den geübten Händen und Anweisungen des Seiltänzers anvertrauen, finden sich selten und wenige. Sich Gottes Fürsorge, seiner Liebe und seinem Anspruch zu überlassen – das ist ohne Zweifel ein Abenteuer mit Grenzerfahrungen und Gefahren, aber eines in dem die Wirklichkeit des Lebens noch einmal ganz neu mit den Worten buchstabiert wird: … ich glaube/vertraue …

Von dem französischen Forscher, Offizier, Mönch und Eremit Charles de Foucauld stammt dieses Gebet. Vorsicht, es aus ganzen Herzen zu beten. Es sei denn, Sie haben sich bereiterklärt, den „Seiltänzer“ beim Wort zu nehmen. Dann steht Ihnen das größte Abenteuer Ihres Lebens noch bevor.

„Mein Vater,
ich überlasse mich dir.
Mach mit mir, was du willst.
Was du auch mit mir tun magst,
ich danke dir.
Zu allem bin ich bereit,
alles nehme ich an.
Wenn nur dein Wille
sich an mir erfüllt
und an allen deinen Geschöpfen,
so ersehne ich weiter nichts,
mein Gott.
In deine Hände lege ich meine Seele;
Ich gebe sie dir,
mein Gott,
mit der ganzen Liebe meines Herzens,
weil ich dich liebe,
und weil diese Liebe mich treibt, mich dir hinzugeben,
mich in deine Hände zu legen,
ohne Maß, mit einem grenzenlosen Vertrauen;
denn du bist mein Vater.“

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